Zur Toleranzentwicklung bei langfristiger Psychopharmaka-Einnahme aus klinischer Sicht

Die aktuelle Debatte um Neuroleptika- und Antidepressiva-Verordnungen bei psychischen Störungen ist einerseits geprägt durch eine Zunahme von kritischen Stimmen sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive als auch aus Betroffenensicht. Besonders zu erwähnen sind hier Peter Gøtzsche und Laura Delano mit ihren Veröffentlichungen und ihrem Auftritt beim Weltkongress für Psychiatrie in Berlin im vergangenen Oktober. Andererseits gibt es zum Teil vehemente Kritik an der Kritik.

Auch in der Öffentlichkeit werden insbesondere Antidepressiva neuerdings sehr kritisch beleuchtet, nachdem sie zuvor über viele Jahre mit unrealistischen Heilserwartungen auch in populärwissenschaftlichen Journalen und Fernsehsendungen beworben wurden. Beispiele für die neue kritische Haltung sind die Titelstory der New York Times vom 07.04.2018 „Many people taking antidepressants discover they cannot quit“ oder das Buch von Johann Hari „Lost Connections“, erschienen Anfang 2018, oder der Artikel des französischen Psychoanalytikers Gérard Pommier in Le Monde diplomatique vom 13.04.2018: „Für alles eine Pille. Der Fluch der Psychopharmaka“. Auf der anderen Seite bemerken wir gerade in Zusammenhängen, wo ein kritischer Umgang mit Neuroleptika und Antidepressiva aktiv thematisiert wird, dass Nutzerinnen und Nutzer dadurch verunsichert werden und unter eine Art Absetzdruck geraten sowie die Tendenz bei Verschreibenden, dass diese stark verunsichert reagieren und sich angegriffen fühlen, was nicht hilfreich ist für eine Weiterentwicklung zum Wohle der Betroffenen.

In Bremen haben wir die Erfahrung gemacht, dass Netzwerkarbeit mit Betroffenen, Mitarbeitenden aus psychosozialen Diensten und ärztlichen und psychologischen Psychotherapeut*innen zu einer vermehrten fachlichen und öffentlichen Diskussion beiträgt. Auch gab es mit der Unterstützung von EX-IN-ausgebildeten Genesungsbegleiter*innen Reduktions- und Absetzgruppen in einer Tagesstätte. Es wurde deutlich, dass der Weg heraus aus einer langfristigen Medikation mit Neuroleptika und Antidepressiva gut geplant sein will und in den meisten Fällen nur in kleinen Schritten passieren kann. Eine Darstellung der Zusammenhänge findet sich im bald erscheinenden Buch von Thelke Scholz, Renate Seroka und Jann Schlimme (Titel: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen, Erscheinungstermin: September 2018 im Psychiatrie Verlag). In dem Buch findet sich auch ein Beitrag von mir zur klinischen Unterstützung bei Reduktions- und Absetzprozessen, den ich hier für die Tagung bereits zusammengefasst zur Diskussion stelle. Die Studienlage wird immer wieder Gegenstand von eifrigen Diskussionen und Debatten sein. Aus meiner Sicht ist es klinisch klar erwiesen, dass es Menschen gibt, bei denen Antidepressiva und Neuroleptika nicht so wirken, wie alle Beteiligten es sich wünschen würden. Neben den bekannten Nebenwirkungen im motorischen und metabolischen Bereich gibt es zahlreiche Gefährdungen und Komplikationen insbesondere durch Medikamentenkombinationen, zu denen die Datenlage ohnehin schwach ist.

Wir kommen in der Psychiatrie an dem Grundproblem nicht vorbei, dass es beim Wechsel vom psychopathologisch bestimmten Diagnostizieren zum somatisch ausgerichteten Medizieren einen Kategoriensprung gibt, denn die Pathophysiologie der großen Krankheitsbilder in der Psychiatrie wie Depression, Schizophrenie, Borderline, Posttraumatische Belastungsstörung und andere mehr ist nicht geklärt. Die Wirkweise der eingesetzten Substanzen passt zu den seit Jahrzehnten tradierten Hypothesen und natürlich gibt es Fälle, in denen wunschgemäß eine Verbesserung der Situation unter Einnahme der entsprechenden Substanzen für die Betroffenen eintritt. Eine passgenaue Heilung durch Medikation bei den schweren und chronischen psychischen Störungen gibt es jedoch nicht. Dies führt dazu, dass die zur Medikation Anlass gebenden psychischen Symptome und die dahinterliegenden lebensgeschichtlichen Probleme oftmals offen oder verdeckt fortbestehen. Wenn nicht an einer konkreten Bewältigung zum Beispiel durch Psychotherapie aber auch durch Sport, kreative Verfahren, Arbeit und vor allem soziale Unterstützung gearbeitet wird, treten zu den weiterbestehenden ursächlichen Problemen die nicht selten erst langfristig sichtbar werdenden somatischen Probleme durch die Medikation hinzu. Als weiteres Problemfeld eröffnet sich dann bei Versuchen des Reduzierens oder gar Absetzens der langfristig eingenommenen Medikamente eine entsprechende Absetz- und Rebound-Symptomatik. Nicht selten führt deshalb ein Reduktions- oder gar rabiater Absetzversuch zu einer mehrfach bedingten Verschlechterung der vorherigen Situation unter Medikation. Dennoch gibt es gesundheitliche Situationen, die zum Reduzieren und Absetzen zwingen und es gibt motivierte Betroffene, die nach anderen Wegen der Bewältigung suchen und diesen Wunsch klar äußern und dabei Unterstützung brauchen.

Insofern ist die Auseinandersetzung eines klinisch tätigen Psychiaters mit der Frage der Nichtwirksamkeit, der Gewöhnung und der Reduktion beziehungsweise dem Absetzen von Medikamenten keine ideologische Grundsatzfrage, sondern ein pragmatisches Alltagsproblem. Wenn es eine gemeinsame Grundhaltung der Heilberufe zur Behandlung von Krankheiten gibt, dann besteht sie ja wohl darin, durch die Behandlung den Betroffenen keinen Schaden zuzufügen. Darüber hinaus suchen wir nach Wegen, ihnen Linderung oder gar Heilung zu ermöglichen. Da von vielen wirksamen Medikamenten auch Risiken und Nebenwirkungen zu befürchten sind, sollte der zu erwartende Nutzen besonders gut belegt sein. Im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten geht es immer auch um Kommunikation, sowohl mit den Betroffenen als auch ihren Bezugspersonen. Insofern reden wir, wenn wir über Medikamente in der Psychiatrie, auch über Gewöhnung daran, reden, nie nur über Medikamente, sondern über Kommunikationsweisen in sozialen Systemen. Davon geprägt sind Reduktions- und Absetzvorgänge individuell extrem unterschiedlich. Was sie miteinander verbindet, ist aus klinischer Erfahrung, dass Menschen eine Motivation entwickeln müssen, um eine langjährig bestehende Medikation reduzieren oder gar absetzen zu können. Sie müssen sich mit der Situation kritisch auseinandersetzen können, was oftmals durch die dauerhafte Einnahme von Neuroleptika und Antidepressiva ebenso wie durch die Einnahme von Tranquilizern und Rauschdrogen biologisch erschwert wird. Dennoch stellen sich viele Betroffene die Frage, ob sie tatsächlich ihr Leben lang Medikamente einnehmen müssen und sie stellen uns die Frage, mit welchen Symptomen sie bei Reduktions- und Absetzversuchen zu rechnen haben. Nach meiner Erfahrung führt eine kritische Auseinandersetzung, die bereits bei der Aufklärung über die Medikation vor Ersteinnahme beginnt, in der Realität sogar zu einer verbesserten Compliance beziehungsweise Adherence, das heißt dass die Betroffenen sich an der Gestaltung der Behandlung, auch der medikamentösen Therapie, selbst bewusst beteiligen können und dies auch wollen. Zur Aufklärung über die Medikamente im Sinne des Patientenrechtegesetzes von 2013 gehört nicht nur die ausführliche und schriftlich dokumentierte und vom Patienten gegengezeichnete Aufklärung über die zu erwartenden Risiken und Störwirkungen, kurz-, mittel- und langfristig, sondern auch die Thematisierung der Indikation überhaupt, denn – siehe oben – die Pathophysiologie vieler Krankheiten, die wir in der Psychiatrie mit Medikamenten behandeln, ist schlicht nicht geklärt. Diejenigen, die hier empört entgegnen, dass dies alles eine Überforderung sei, erinnere ich daran, dass niemand uns dazu zwingt, solche Aufklärungsprozesse in wenigen Minuten zu vollführen. Bei fast allen langfristigen Medikationen geht es ja eben nicht um unmittelbare Notfallsituationen – für diese gibt es eigene Rechtskonstrukte –, sondern um ein gemeinsames Entwickeln eines auf Einsicht beruhenden, langfristigen Behandlungsplans, in dem die Medikation eine Rolle spielen kann, aber nicht dauerhaft spielen muss. In der Praxis haben wir für unsere Klinik ein entsprechendes Aufklärungsblatt entworfen. Dies wird schon bald überarbeitet und erfreulicherweise haben sich niedergelassene Fachkolleg*innen gemeldet, die an der Überarbeitung teilnehmen wollen. Denn es zeigt sich, dass ein Austausch zwischen ambulant und stationär Tätigen, insbesondere in der ärztlichen Berufsgruppe, aber auch darüber hinaus, die Erfolgsaussichten solcher Prozesse enorm verbessert.

Uwe Gonther