Zur Technik der Medikamentenreduktion (Jann E. Schlimme, Uwe Gonther)

Zur Technik der Medikamentenreduktion (Jann E. Schlimme, Uwe Gonther)

  1. Allgemeines

Die Medikamentenreduktion von Neuroleptika und/oder Antidepressiva stellt eine gemeinsame Suchbewegung aller Beteiligten dar (die betreffende Person PLUS privates UND professionelles soziales Netz). Zentrale Grundhaltung im Reduktionsprozess ist das Vermeiden von nachteiligen oder gar schädigenden zu hohen Dosierungen (u.a. Nebenwirkungen wie kognitive Einschränkungen, Antriebsstörungen, somatische Nebenwirkungen). Die Reduktion kann hiermit eine tiefergreifender Genesung ermöglichen, fordert aber auch Disziplin und Geduld. Sie ist ein oft jahrelanger Prozess, der oft auch Krisen und Rückschläge in Kauf nehmen muss. Es erfordert also eine vorbereitende Krisenplanung, damit diese Krisen gut begleitet und bewältig werden können. Generell gilt, dass eine sorgfältige Information über die Herausforderungen und Risiken des Reduktionsprozesses zu erfolgen hat (vgl. Gonther 2018).

– medikamentenspezifische Entzugs-/Absetz- und Rebound-Symptome

– Erwachende Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse (Verlust der künstlichen, medikamenteninduzierten emotionalen Distanz)

– Veränderungen der interpersonalen Motive und Verhaltens

Die drei Herausforderungen bei der Medikamentenreduktion (mod. n. Schlimme, Scholz und Seroka 2018)

Wir empfehlen eine vorsichtige Methode des Reduzierens in Übereinstimmung mit den Erfahrungen vieler Personen, denen es auf diese Weise gelungen ist, die Dosis der ZNS-wirksamen Substanzen erheblich zu verringern oder diese sogar auszuschleichen. Es gibt auch Beispiele von sehr viel schnelleren Reduktions – und Absetzprozessen, die ebenfalls erfolgreich sein können. Dabei ist das Risiko beim schnellen Reduzieren anscheinend deutlich größer, dass es zu Absetzphänomenen, Rebound-Erscheinungen und Rückfällen in die vorherige Problematik kommt. Die individuell sehr unterschiedlichen Symptome lassen sich nicht immer eindeutig den genannten Hintergründen zuordnen. Auch können neue psychische Belastungen hinzu kommen.

Um den Weg des Reduzierens und Absetzens bewusst gehen zu können, brauchen die Betroffenen ein starkes Motiv. Ein solches starkes Motiv kann beispielsweise ein Kinderwunsch, der Wunsch nach Gewichtsreduktion oder darstellen. Die Suche nach der persönlichen Motivation ist bereits Teil der pflegerischen und/ oder therapeutischen Begleitung.

  1. Voraussetzungen der Medikamentenreduktion

Medikamentenreduktionen sollten in möglichst stabilen Phasen der psychischen Störungen erfolgen. Nur in Ausnahmefällen (z.B. bei einem zentralen Serotonin-Syndrom, schweren EPMS oder einem malignen neuroleptischen Syndrom) kann es sinnvoll oder sogar geboten sein, die Medikation auch im Krisenfall zu reduzieren.

Antidepressiva sind zwar – im Unterschied zu Neuroleptika – zur Rezidivprophylaxe nicht primär geeignet, dennoch ist es sowohl bei Antidepressiva als auch Neuroleptika bisher im individuellen Fall nicht möglich, vorherzusagen, bis zu welcher Dosis eine begleitete Medikamentenreduktion erfolgen kann (vgl. Gupta & Cahill 2016). Im individuellen Fall kann eine Reduktion für den Betreffenden zu belastend sein – auch wenn sie in kleinsten Schritten erfolgt. Außerdem bestehen individuell sehr unterschiedliche (genetisch bzw. psychosozial bedingte) Anfälligkeiten für erneute Psychosen oder Depressionen. Beispielsweise profitieren manche psychoseerfahrene Personen auch langfristig von einer individuellen Niedrigstdosis (Tijonen et al. 2017), wohingegen nur sehr selten depressionserfahrene Personen von einer langfristigen Nutzung von Antidepressiva profitieren (El-Mallakh et al. 2011).

  • Lebensziele jenseits des Reduktionswunsches von Psychopharmaka
  • Unterstützendes privates soziales Netz
  • Etabliertes professionelles soziales Netz (Selbsthilfe und Erfahrungsexperten, Psychotherapie, musische und körperzentrierte Therapieformen) da eine zunehmende Erinnerung an belastenden, schmerzhaften oder traumatischen Erfahrungen durch die Reduktion erwartet werden kann
  • Netzwerkgespräche mit allen wichtigen Akteuren des sozialen Netzes
  • gute Vorbereitung vor dem Reduktionsprozess und den einzelnen Reduktionsschritten (u.a. Krisenplan)
  • Abschalt- und Bewältigungstechniken (möglichst im „Normalen“ angesiedelte Varianten aus den Bereichen Bewegung und musische Betätigung, eventuell aus dem therapeutischen Rahmen übernommen)
  • Behandlungsvereinbarung mit der zuständigen Klinik
  • Vorausverfügung

Günstige Prädiktoren für eine erfolgreiche Medikamentenreduktion bis zu einer individuellen Niedrigstdosis (mod. n. Aderhold 2015; Gupta & Cahill 2016)

  1. Das konkrete Vorgehen der Medikamentenreduktion

Bisher existieren keine randomisierten Studien zu unterschiedlichen Formen der Reduktion (z.B. hinsichtlich adjuvanter Medikationen, psychotherapeutischer und psychosozialer Behandlung/Begleitung). Verschiedene Studien sind dazu in Planung. Uneinheitliche Hinweise hinsichtlich der Geschwindigkeit der Reduktion ergeben sich indirekt aus anderen Studien (z.B. Tiihonen et al. 2017; Wunderink et al. 2013).

Das aktuelle Wissen zum Vorgehen bei Medikamentenreduktionen kommt vor allem aus der Gruppe der Betroffenen (Hall 2012, Lehmann et al 2013; Müller & Miltenberg 2016) bzw. dem Austausch von Betroffenen und professionellen Praktikern auf Internetplattformen (www.beyondmeds.com, www.madinamerica.com, www.survivingantidepressants.com, www.adfd.org), Internetbefragungen (u.a. Lincoln in process) und publizierten Erfahrungen von professionellen Praktikern (Breggin 2013; Schlimme 2016; Schlimme, Scholz & Seroka 2018). Wie bereits dargestellt, ist die Entwicklung alternativer Umgangsformen mit den Beschwerden und Herausforderungen sinnvoll. Hierzu kann eine Vielzahl von eher alltäglichen Maßnahmen (z.B. Bewegung, Sport, Yoga, Meditation, Musizieren, expressives Schreiben), strukturierten Selbsthilfemaßnahmen (z.B. in Gruppen) und verschiedenste Therapieformen (Psychotherapie, Körperpsychotherapie, Ergotherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie) hilfreich sein.

Das konkrete Vorgehen der Dosisreduktion ist zwar individuell, kann aber mit Hilfe der nachfolgenden Leitideen relativ sicher erfolgen.

  • Bei jedem Reduktionsschritt sollten Entzugserscheinungen in den ersten 2-4 Wochen erwartet werden.
  • Reduktionsschritte sollten zwischen 5-10% der aktuellen Dosis betragen, wobei eine Anpassung der reduzierten Milligramm-Menge nach einigen Reduktionsschritten, bei Neuroleptika aber zumindest ab Dosierungen von 1-2 mg Haloperidol-Äquivalent, erfolgen sollte.
  • Reduktionsabstände sollten zwischen 6-12 Wochen betragen, wobei für die Auswahl des nächsten Reduktionszeitpunkts die Erfahrungen des letzten Reduktionsschritts und die Gesamtbehandlungsdauer einbezogen werden sollte (Faustformel: Je langsamer, desto erfolgreicher)
  • Es sollte ein Zeitraum von vier „stabilen“ Wochen vor dem nächsten Reduktionsschritt bestehen (d.h. es besteht [wieder] eine verlässliche Alltagsroutine).
  • Schlaf ab 23.00 Uhr (kurzfristige Medikation mit Benzodiazepinen kann v. a. bei reduktionsbedingten Schlafstörungen hilfreich sein).
  • Bei einer aufkommenden Krise (mit Gefahr einer erneuten Psychose/Depression) sollte frühzeitig auf die zuvor genutzte Dosis zurückgekehrt werden, ggf. auch 10% über der vorigen Dosis, sowie weitere Maßnahmen zur Krisenbewältigung genutzt werden.
  • Längere (mehrmonatige bis jahrelange) Pausen des Reduzierens sollten erfolgen, wenn belastende, schmerzhafte oder traumatische Erinnerungen zu belastend werden, Sehnsuchtsspannungen zu stark werden oder salutogenetische Routinen nicht mehr verlässlich aufrechterhalten werden können.

Grundideen der Reduktionsschritte (mod. n. Schlimme, Scholz & Seroka 2018)

PRAKTIKERHINWEIS:

Individuelle Dosisanfertigungen sind in Deutschland für die meisten Medikamente durch die Apotheken auf Kosten der GKV möglich. Dies ist hilfreich, wenn keine ausreichend kleinen Dosierungen über Tabletten oder Tropfen möglich sind. Dabei gilt der folgende Rezepttext:

Rezeptur: 30 Kps Olanzapin à 6,5 mg, 1 x tgl.

Die Kapselmenge kann in 30er Schritten auch in größeren Mengen verordnet werden.

Der Wirkstoff ist austauschbar, wobei Retardformulierungen nicht in kleineren Dosen angefertigt werden können.

Die Wirkstoffmenge ist frei wählbar, wobei üblicherweise auf eine Stelle nach dem Komma im Milligramm-Bereich gearbeitet werden kann.

  1. Nach der Medikamentenreduktion

Die Genesung ist NICHT mit dem Erreichen der individuellen Niedrigstdosis oder dem Ausschleichen/Absetzen des Medikaments abgeschlossen. Oftmals beginnt sie dann erst oder setzt sich jedenfalls in unverändertem Umfang fort.

Der Reduktionsprozess erfordert ebenso wie der Genesungsprozess eine große Ausdauer, viel Disziplin und das sorgsame Entwickeln einer unterstützenden Alltagsroutine mit Phasen sinnvoller Betätigung, sozialen Austauschs und Ruheoasen/Rückzugsräumen. Diese im Verlauf der Reduktion entwickelte und verfeinerte, genesungsförderliche Routine gilt es auch nach dem Absetzen bzw. dem Erreichen der individuellen Niedrigstdosis – letzteres gilt insbesondere bei Neuroleptika – zu bewahren.

MERKE:

Der Reduktionsprozess ist immer Bestandteil, niemals das Ende, oft aber die Voraussetzung des (weiteren) Genesungsprozesses.

Literatur:

Aderhold, V (2014) Neuroleptika minimal – warum und wie

(https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Wissenschaftliche_Artikel/Aderhold_Neuroleptika_minimal_12-2014.-Januar.pdf)

Breggin, P R (2013). Psychiatric drug withdrawal. A guide for prescribers, therapists, patients, and their families. New York: Springer.

El-Mallakh, R S; Yonglin, G; Roberts, R J (2011). Tardive dysphoria: The role of long term antidepressant use in-inducing chronic depression. Medical Hypotheses 76: 769–773

Gonther, U (2018). Ausflug zur Station. In: Schlimme, J E; Scholz, T; Seroka, R (2018) Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen. Köln: Psychiatrie-Verlag.

Gupta, S; Cahill, J D (2016). A Prescription for „Deprescribing“ in Psychiatry. Psychiatric services 67 (8): 904–907.

Hall, W (2012). Harm Reduction Guide to Coming Off Psychiatric Drugs. 2nd Edition. The Icarus Project and Freedom Center.

Lehmann, P (2013, Hg.). Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern. Berlin: Antipsychiatrieverlag.

Lincoln, T (in process). Absetzen von Psychopharmaka. https://ww3.unipark.de/uc/psychopharmaka/

Müller, M; Miltenberg, M (2016). Antidepressiva absetzen. CreateSpace Independent Publishing Platform.

Schlimme, J E (2016). Begleitetes Absetzen von Neuroleptika aus der Sicht des ambulant tätigen Facharztes. Soziale Psychiatrie 40 (2): 31-34.

Schlimme, J E; Scholz, T; Seroka, R (2018) Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen. Köln: Psychiatrie-Verlag.

Tiihonen, J; Mittendorfer-Rutz, E; Majak, M; Mehtälä, J; Hoti, F; Jedenius, E; Enkusson, D; Leval, A; Sermon, J; Tanskanen, A; Taipale, H (2017). Real-World Effectiveness of Antipsychotic Treatments in a Nationwide Cohort of 29 823 Patients With Schizophrenia. JAMA Psychiatry 74(7): 686–693.

Wunderink, L; Nieboer, R M; Wiersma, D; Sytema, S; Nienhuis, F J (2013). Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry 70(9): 913–920.